Gesundheitsförderung bei älteren Menschen

Hundertjährige Influencerin für Bewegungsförderung im Alter

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Weshalb haben Hundertjährige in der Mehrheit eine so hohe Lebenszufriedenheit? Warum sind sie optimistischer als die Gruppe der 80-95-Jährigen? «Hundertjährigen-Studien» zeigen Antworten auf. Frau Kleiber, die mit hundert eine Turngruppe in einem Pflegeheim leiten kann, lebt es vor. Im Interview erzählt sie von ihrer Leidenschaft für die Bewegungsförderung, die auf Gleichaltrige ansteckend wirkt.
16.06.2023, 10:21

Ein Beitrag von Claudia Kessler, PHS Public Health Services


Dies ist ein Bericht aus meinem Privatleben über eine wunderbare und im besten Sinne des Wortes bewegende Begegnung mit einer hochaltrigen Frau. Mein Vater lebt seit zwei Monaten in einem Alters- und Pflegeheim. Ältere Menschen erhalten dort auch vorübergehend ein «Ferienbett», zur Entlastung oder bei Abwesenheit der betreuenden Angehörigen. Die Institution organisiert regelmässige und den Möglichkeiten der Bewohnenden angepasste Aktivierungsaktivitäten, wie z.B. gemeinsames Kuchen backen, Vorleserunden oder kleine Entdeckungsspaziergänge im Dorf.

Im April erfüllte eine besondere Stimmung die Räume. Bei meinen Besuchen nahm ich bei den Bewohnenden und beim Personal ein zufriedenes, verschmitztes Lächeln wahr. Das Morgenturnen, täglich um zehn Uhr, wurde nämlich von einer «Peer» – einer Bewohnerin auf Zeit – geleitet. Bemerkenswert dabei: Frau Kleiber, die «Vorturnerin» feiert im Juni, wenn dieser Beitrag im Newsletter erscheint, ihren hundertjährigen Geburtstag. Mein 92-jähriger Vater und die anderen Bewohnenden schwärmen begeistert von dieser Frau und der unerwarteten Erfahrung, die ihnen täglich eine grosse Portion Freude und erlebte Selbstwirksamkeit zurückschenkt.

Ich durfte an einer der Runden teilnehmen und war beeindruckt von der professionellen Vorgehensweise. Man merkte sofort: Frau Kleiber war von Beruf Gymnastiklehrerin. Ihr Ansatz: zu Beginn der Runde finden sich die Teilnehmenden in einem Kreis ein. Die Übungen beginnen im Sitzen auf einem Sessel. Zuerst kommen Übungen für die Füsse und Beine dran, dann für Arme, Hände und den Rumpf. Schliesslich stehen alle hinter dem Sessel auf, halten sich vorne an der Rückenlehne und machen verschiedene Übungen, wie z.B. Kniebeugen. Das Ganze dauert dreissig Minuten, ohne Pause. Alle halten konzentriert mit. Frau Kleiber erklärt immer, wozu eine Übung dient, und streut motivierende Botschaften ein, wie z.B. «das machet er sehr guet!» oder «machet einfach das, wo dr möget».

Natürlich wollte ich mehr über Frau Kleiber erfahren. Sie war sofort offen für ein Gespräch und wir haben uns gegenseitig übereinander gefreut – zwei Fachfrauen aus verschiedenen Generationen.
 

Claudia Kessler (CK): Frau Kleiber, mögen Sie mir einen kurzen Einblick in Ihr Leben geben? Woher kommen Sie und wie leben Sie heute?

Frau Kleiber: Ich habe zeitlebens im Leimental bei Basel gewohnt. Mein Vater war Oberturner im Kunstturnen. Von ihm habe ich die Begeisterung für die Bewegung geerbt.

Mein sehnlichster Berufswunsch war, Gymnastiklehrerin zu werden. Aber meiner Familie fehlte das Geld für eine Ausbildung für mich als Mädchen – das Geschlecht spielte damals in diesen Fragen eine grosse Rolle.  Also musste ich zuerst eine Lehre als Verkäuferin machen. Aber schon mit 17 nahm ich die ersten berufsbegleitenden Kurse und arbeitete mich so über etwa fünf Jahre langsam vor bis zum Diplom als Gymnastiklehrerin. Der Höhepunkt war für mich ein Kurs in Magglingen, wo später nur noch die «grossen» Sportler hindurften.

Danach führte ich in meiner Gemeinde die Mädchenriege und das Altersturnen ein. Im Altersheim leitete ich sechs Kurse mit etwa 120 Frauen. Daneben gab ich auch Schwimm- und Tanzkurse. Besonders die Volkstänze hatten es mir angetan – vor allem die israelischen. Ich war nie ein Büromensch und hatte schon immer grosse Freude an der Bewegung. Auch die Arbeit in unserem grossen Garten gehörte dazu. Mit 63 habe ich den Beruf an den Nagel gehängt. Ich fand, jetzt müsse jemand Jüngeres übernehmen.

Seit dem Tod meines Mannes vor zehn Jahren wohne ich allein in unserem Haus. Das Mittagessen lasse ich von einem Mahlzeitendienst bringen. Frühstück und Abendessen bereite ich selbst zu. Mein Sohn und die Schwiegertochter erledigen die Einkäufe. Ich habe eine Putzhilfe und manchmal helfen mir auch meine Nachbarn. Zwar gehe ich am Rollator, Spitex brauche ich aber noch keine. Wie früher mache ich jeden Morgen Bewegungsübungen – so wie es gerade geht. Mit Begleitung und dem Rollator kann ich noch eine halbe Stunde spazieren. Jetzt bin ich für ein paar Wochen hier als Feriengast, während mein Sohn verreist ist.

CK: Welches sind für Sie die Ziele des Morgenturnens für Ihre Mitbewohnerinnen und -bewohner?

Frau Kleiber: Ich möchte, dass alle – unabhängig von ihrem Alter und den Bresten – ihren Körper wieder positiv spüren. Zuerst hatten einige Mühe mit den Übungen. Aber schon nach ein paar Tagen ging es besser. Ich sehe die Freude der Teilnehmenden, wenn ihnen etwas gelingt, was sie vorher nicht machen konnten. Eine Frau hat mir gesagt: «Das tut so gut. Ich wusste gar nicht, dass ich noch turnen kann!». Ich sehe bei der Gruppe bereits gute Fortschritte. Die Teilnehmenden sitzen anders auf ihren Sesseln als zu Beginn. Ihre Haltung ist aufrechter, erwartungsvoll.

CK: Wenn Sie auf Ihre mehr als 85 Jahre in der Bewegungsförderung zurückschauen, welche wesentlichen Veränderungen nehmen Sie wahr?

Frau Kleiber: Sehr schade finde ich, dass die Volkstänze verschwunden sind. Die haben mir sehr gefallen, auch wegen des sozialen Effekts. Heute wird vor allem an Geräten Sport gemacht und die Jungen gehen weniger in Vereine als früher. Im Verein findet man jedoch vielfältigere Angebote, turnt auch miteinander und verbindet die Bewegung zudem immer mit Geselligkeit. Das finde ich wichtig.  

CK: Kommen wir zum Schluss noch auf die Erfolgsfaktoren Ihres Gruppenkurses. Der wichtigste ist sicher Ihre Person als Vorbild. Ich stelle mir vor, dass eine junge Turnlehrerin bei den hochaltrigen Teilnehmenden nie die gleiche Begeisterung für Bewegung hätte auslösen können. Welche Geheimrezepte wenden sie sonst noch an, die die Teilnehmenden in Bewegung bringen?

Frau Kleiber: Ja, da haben sie recht. Die Leute denken: «die Alti chas no- denn chan ich’s au!». Deshalb habe ich mich auch bei der Stationsleitung gemeldet, dass ich das Morgenturnen geben könnte. Mein Vorschlag wurde mit Begeisterung aufgenommen. Ich finde es schade, wenn ältere Menschen nur noch sitzen. Ich möchte ihnen zeigen, was sie noch aus sich und ihrem Körper rausholen können. Jede Person kann bis zuletzt Neues lernen. Meine Freude für die Bewegung wirkt ansteckend. Ich habe auch schon Menschen in Bewegung gebracht, die sich nichts mehr zutrauten und keine Lust mehr hatten. Ich lade diese Menschen ein, zuerst zuzuschauen. Ich überfordere niemanden, sondern passe die Übungen an die Möglichkeiten der Leute an. Der Sessel gibt den Leuten Sicherheit. Und wenn sie dann Lust bekommen, können sie mitmachen. In der Gruppe erhalten die Leute mehr Ansporn. Es soll ihnen Spass machen. Und ich lobe jeden kleinen Fortschritt.

CK: Ich danke Ihnen ganz herzlich für dieses spannende Gespräch, Frau Kleiber. Ihr Beispiel zeigt uns, dass ältere Menschen, auch wenn sie schon gebrechlicher werden, noch Wichtiges zur Gemeinschaft beitragen können. Gesundheitsförderliche Lebenskompetenzen sind keine Frage des Alters – vor allem nicht, wenn man sich das ganze Leben aktiv und in Bewegung hält. Das ist sicher die beste Vorbereitung auf das Alter. Zudem kann ihre Geschichte auch betreuenden Angehörigen Mut geben, sich ab und zu «auszuklinken», sich Zeit für sich selbst zu nehmen und die Sorge um ihre Nächsten währenddessen den «Profis» zu übergeben.

Ich wünsche Ihnen von Herzen gute Gesundheit und einen schönen hundertsten Geburtstag!


Claudia Kessler von PHS Public Health Services führte das Gespräch im April 2023 im Auftrag von Gesundheitsförderung Schweiz. Kontakt: kessler@public-health-services.ch